Die „Atomare Teilhabe“ Deutschlands und die Gefahr eines Atomkrieges in Europa

Claus Schreer aus ISW vom 22. Juli 2020

2012 | NeuwieserFlickr | CC BY-SA 2.0

Mit den US-amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren begann die Geschichte des atomaren Wettrüstens zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion. Heute verfügen die neun Atommächte über rund 13.400 Nuklearwaffen. Trotz einiger Reduzierungen, z.B. durch den New-Start-Vertrag 2010 befinden sich laut SIPRI immer noch mehr als 90 Prozent aller Nuklearwaffen im Besitz der beiden größten Atommächte. Russland verfügt demnach über 6375, die USA über 5800 Atomsprengköpfe. Großbritannien besitzt 215, Frankreich 290, China 320, Indien 150, Pakistan 160, Israel 90, Nordkorea 30-40.

Deutschland und die Bombe

Am 12. April 1957 alarmierten 18 führende Atomwissenschaftler mit ihrem berühmten „Göttinger Manifest“ die Öffentlichkeit über die Gefahren eines Atomkrieges und warnten vor den Plänen der Adenauer-Regierung, die Bundeswehr mit Atomwaffen aufzurüsten. Bereits 1955 hatten die USA – unter strengster Geheimhaltung – damit begonnen, atomare Kurzstrecken-Raketen in der Bundesrepublik zu stationieren. Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) erklärte dazu, diese Atomwaffen seien „nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie“. Daraufhin entstand mit der Kampagne „Kampf dem Atomtod“ ein Proteststurm gegen die atomare Aufrüstung. 1958 stimmte die CDU/CSU-Mehrheit des Bundestages für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr. 1960 begannen dann die jährlich stattfindenden „Ostermärsche der Atomwaffengegner“. In diesem Jahr forderte der Führungsstab der Bundeswehr die Verfügungsgewalt über die in Deutschland stationierten Atomwaffen und 1962 eigene deutsche Atomwaffen. 1964 verlangte der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Trettner, die Realisierung von Planungen des Pentagon zur Errichtung eines Atomminengürtels entlang der innerdeutschen Grenze.

Diese abenteuerlichen Pläne konnten schließlich – auch aufgrund der jahrelangen Proteste der Friedens- und Antikriegsbewegung verhindert werden. Die ca. 7.000 taktischen Atomwaffen, die in den 1960er Jahren in Westdeutschland stationiert waren und die im Ernstfall auf dem Gebiet der DDR oder der BRD zum Einsatz gekommen wären, wurden – ebenso wie die Pershing II Mittelstrecken-Raketen – bis zum Ende des „Kalten Krieges“ von den USA abgezogen. Übrig geblieben sind bis heute die auf dem Bundeswehr-Luftwaffenstützpunkt in Büchel stationierten US-Atombomben.

Die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands

Die „Nukleare Teilhabe“ verstößt gegen den Atomwaffensperrvertrag, den Deutschland 1976 unterzeichnet hat. Darin haben sich alle Nicht-Atomwaffenstaaten verpflichtet, „Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem unmittelbar oder mittelbar anzunehmen“.

„Nukleare Teilhabe“ bezeichnet die technische und politische Beteiligung von NATO-Staaten an der Atomkriegsstrategie der USA. Im Rahmen der „Nuklearen Teilhabe“ haben die USA in vier europäischen Nato-Staaten ca. 150 taktische Atomwaffen – frei fallende Atombomben vom Typ B61 – stationiert. Neben Deutschland sind das Belgien, Italien, die Niederlande und die Türkei. Die USA liefern also die Atomwaffen, während die Stationierungsländer die Stützpunkte, die Trägerflugzeuge und die Piloten zur Verfügung stellen, die im Kriegsfall die Atomwaffen ins Ziel fliegen und abwerfen. Offiziell wird das als „Technische Teilhabe“ bezeichnet.

In Deutschland sind schätzungsweise 20 US-Atombomben auf dem Bundeswehr-Fliegerhorst Büchel in der Eifel stationiert. Die Bundesregierung verweigert dazu jede konkrete Aussage. Zuständig für den Einsatz der Atombomben ist das „Taktische Luftwaffengeschwader 33“ der Bundeswehr. Gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern, in denen US-Atomwaffen stationiert sind, üben die Piloten der Bundeswehr in der NATO-Übung „Steadfast Noon“ regelmäßig den Abwurf der Atombomben.

Die sog. Politische Teilhabe besteht in der Teilnahme an der „Nuklearen Planungsgruppe“ (NPG) der NATO. Die NPG ist ein Forum, in dem alle Mitgliedsländer des Bündnisses an Einsatzszenarien des Nuklearpotentials der NATO mitwirken und darüber beraten können. Die Bundesregierung begründet damit die nukleare Teilhabe Deutschlands. Im aktuellen Koalitionsvertrag der Regierungsparteien heißt es dazu: „Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im Strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben“.

Die „Nukleare Planungsgruppe“ ist aber kein Entscheidungsgremium. Einfluss auf einen möglichen Einsatz der Atomwaffen hat die Bundesregierung damit nicht. Sie könnte zwar Empfehlungen geben, welche Ziele des Gegners im Ernstfall angegriffen werden, die Entscheidung über einen Einsatz der Atomwaffen liegt aber allein in der Hand der NATO-Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien.

Claus Schreer zur „Atomaren Teilhabe“ Deutschlands

Die neue Allzweckbombe B61-12

Entgegen dem Mehrheitswillen der Bevölkerung und trotz eines parteiübergreifenden Beschlusses des Bundestages im Jahr 2010 hält die Bundesregierung weiterhin an der Stationierung der US- Atombomben in Deutschland fest und lässt Piloten der Bundeswehr regelmäßig den Atomwaffeneinsatz für den Ernstfall trainieren. Mit ihrer Zustimmung werden jetzt die in Büchel stationierten US-Atombomben „modernisiert“. Was harmlos klingt ist der Ersatz der derzeitigen B61 frei fallenden Bomben durch eine völlig neue Bombenversion mit erweiterten Einsatz-fähigkeiten.

Die neue B61-12 ist eine „Allround“-Atombombe, eine zielgenaue, elektronisch gesteuerte und gelenkte Atomwaffe mit variabler Sprengkraft, vergrößerter Reichweite und der Fähigkeit, tief verbunkerte Ziele zu zerstören. Die B61-12 ist die erste Nuklearbombe, die mit einem derartigen Steuerungssystem ausgestattet ist. Durch die variable Sprengkraft in der Größenordnung von sog. Mini-Nukes bis zur Sprengkraft der Hiroshimabombe, ergeben sich für die Kriegsplaner erweiterte operative Möglichkeiten für den Einsatz dieser Atomwaffen. Mit diesen neuen Waffen – darauf spekulieren die Atomkriegsstrategen – ließe sich der Einsatz von Atomwaffen auf Europa begrenzen.

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer kündigte im April 2020 an, 138 neue Kampfflugzeuge anzuschaffen, um die veraltete Tornado-Flotte der Bundeswehr zu ersetzen. Dabei sollen 93 modernste Eurofighter-Jets angeschafft sowie 45 Kampfflugzeuge vom Typ F-18 des US-Konzerns Boeing eingekauft werden. 30 dieser F-18 in der Version „Super-Hornet“ sind ausschließlich für den Einsatz der in Büchel stationierten Atombomben und 15 Kampfflugzeuge F-18 „Growler“ als Begleitflugzeuge zur Zerstörung der gegnerischen Luftabwehr vorgesehen. Damit wird auch die „Nukleare Teilhabe“ Deutschlands für die kommenden Jahrzehnte festgeschrieben.

Neue atomare Aufrüstung – Neue Kriegsgefahr

Obwohl sich alle Kernwaffenmächte, die 1970 den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet haben, feierlich zur nuklearen Abrüstung verpflichtet haben, gibt es seit dieser Zeit keinerlei substanzielle Fortschritte in Richtung Abrüstung.

Es ist vor allem der Anspruch der USA auf weltweite militärische Überlegenheit, der das Wettrüsten anheizt und weitere Abrüstungsmaßnahmen verhindert. Bereits unter Präsident Obama hatte die US-Regierung beschlossen, ihr Atomwaffenarsenal in den kommenden 30 Jahren für 3.000 Milliarden Dollar – das sind 100 Mrd. jährlich – aufzurüsten. Und US-Präsident Trump erklärte im Februar 2017 gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: „Solange Staaten Atomwaffen besitzen, müssen wir im Rudel ganz oben stehen“. Im Haushaltsentwurf der Regierung beantragte er zusätzliche 46 Mrd. Dollar für neue Atomwaffen und Trägersysteme.

Eines der wesentlichen Hindernisse für Fortschritte bei der atomaren Abrüstung mit Russland ist die Stationierung der Raketenabwehr in Polen und Rumänien. Denn der Zweck der Raketenabwehr ist nicht die Abwehr eines Angriffs, sondern der Versuch, das atomare Gleichgewicht außer Kraft zu setzen und einen atomaren Erstschlag der USA zu ermöglichen.

Bereits 2001 hatten die USA einseitig den ABM-Vertrag von 1972 gekündigt, der die Errichtung von Raketenabwehrsystemen verboten hatte. Die inzwischen von den USA installierten „Aegis Ashore“-Systeme in Polen und Rumänien können „SM-3- Abfangraketen“ abfeuern, aber durch einfache Änderung der Programmierung auch gegen Bodenziele eingesetzt werden. Und sie können Marschflugkörper abfeuern und somit gegnerische Ziele bis weit hinter Moskau erreichen und zerstören.

Am 1. Februar 2019 kündigte die US-Regierung den INF-Vertrag. Kurze Zeit später setzte Russland den Vertrag ebenfalls außer Kraft. Am 2. August 2019 ist der Vertrag ausgelaufen. In dem 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen INF-Vertrag verständigten sich beide Länder auf ein Verbot landgestützter, ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km, die Vernichtung aller vorhandene Waffen dieses Typs und ein Verbot der Produktion und Tests neuer Mittelstreckenwaffen.

Als Vorwand für die Vertragskündigung der USA diente der Test eines russischen Marschflugkörpers, der angeblich eine deutlich höhere Reichweite als 500 km gehabt haben soll. Russland dementierte den Vorwurf und bot Inspektionen vor Ort an, die aber von der US-Regierung abgelehnt wurden. Stattdessen forderte die US-Regierung in einem Ultimatum die Zerstörung dieser Flugkörper. Tatsächlich ging es gar nicht um angebliche Verstöße Russlands gegen den INF-Vertrag. John Bolton, bis vor kurzem noch Sicherheitsberater von US-Präsident Trump, bezeichnete bereits im Jahr 2014 diesen Vertrag als ein „überholtes Atomabkommen“, und sagte auch, worum es der US-Regierung beim Ausstieg aus dem Abkommen wirklich geht. Die Kündigung „gibt Amerika die Möglichkeit, überholte Beschränkungen aus dem Kalten Krieg loszuwerden.

Jetzt droht die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen und ein erneutes Wettrüsten zwischen den beiden großen Atommächten. Mittelstreckenwaffen sind keine Defensivwaffen, sondern aufgrund ihrer kurzen Vorwarnzeit Erstschlagswaffen. Damit wächst die Gefahr eines Atomkrieges in Europa.

Die neuen B61-12 Atomwaffen, die ab 2022 in Europa stationiert sollen, werden die Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz weiter senken. In der Logik der US-Militärs macht die neue Bombe einen auf Europa begrenzten Atomwaffeneinsatz kalkulierbar, ohne einen atomaren Gegenschlag Russlands auf US-Territorium und einen globalen Atomkrieg zu riskieren.

In diesem Zusammenhang forderte Elbridge A. Colby, der bis 2018 Chefstratege im Pentagon war, „die richtige Strategie und die richtigen Waffen, um einen begrenzten Atomkrieg zu führen und zu gewinnen“ und erklärte weiter: „Wir müssen bereit sein, Atomwaffen gezielt einzusetzen. Natürlich kann man die apokalyptische Gefahr solcher Waffen nicht komplett kontrollieren, aber wir sollten zu einem gezielten Einsatz bereit sein“.

Ein Atomwaffenkrieg zwischen den USA und Russland wäre jedoch das Ende Europas. Seit einigen Jahren schon erzählt uns die Bundesregierung das Märchen, dass für die Entscheidung über den Abzug der Atomwaffen in Büchel die USA und NATO zuständig seien. Mit dieser Ausrede versucht sich die Bundesregierung aus der eigenen Verantwortung zu stehlen.

Die Wahrheit ist: Ob Massenvernichtungswaffen in Deutschland stationiert werden, ob sich die Bundeswehr im Ernstfall an Atombombenangriffen beteiligt und dafür Trainingsflüge absolviert, das hat weder die US-Regierung noch die NATO zu entscheiden. Die Verantwortung und die Entscheidungsbefugnis darüber liegt ausschließlich in der Hand der Bundesregierung. Sie darf sich nicht länger an der Atomkriegsplanung der USA beteiligen und muss die „Nukleare Teilhabe“ Deutschlands beenden.

Der Widerstand gegen die atomare Hochrüstung wächst

Im Juli 2017 haben die atomwaffenfreien Länder den Aufstand gegen die Atommächte gewagt. 122 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben damals einen Vertrag für das Verbot aller Atomwaffen beschlossen. Das Abkommen verbietet den Vertragsstaaten, Kernwaffen zu entwickeln, herzustellen, zu erwerben und zu besitzen, Kernwaffen einzusetzen oder ihren Einsatz anzudrohen, Kernwaffen zu lagern oder die Verfügungsgewalt darüber unmittelbar oder mittelbar anzunehmen.

Ein geradezu unglaublicher Skandal ist es, dass die Bundesregierung, zwar mit wohlfeilen Lippenbekenntnissen eine Welt ohne Atomwaffen befürwortet, in der UNO aber gemeinsam mit den anderen NATO-Staaten gegen die Aufnahme der Verbotsverhandlungen gestimmt hat und gemeinsam mit den Atommächten, die UN-Verhandlungen boykottierte.

Der Atomwaffenverbotsvertrag ist ein Ziel des jahrzehntelangen Kampfes der weltweiten Bewegung gegen die nukleare Aufrüstung und auch des jahrzehntelangen Kampfes gegen die in Deutschland stationierten Atombomben. Mehr als 500 Abgeordnete aus Bundestag, Landtagen und dem Europaparlament hatten bereits Ende 2019 in einer Erklärung die Unterzeichnung und Ratifizierung „dieses bahnbrechenden Vertrages“ gefordert. Nach einer aktuellen Umfrage von Greenpeace befürworten derzeit 92 Prozent der Befragten in der Bundesrepublik den Beitritt Deutschlands zu diesem Abkommen. 83 Prozent sind dafür, dass die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen abgezogen werden.

Rolf Mützenich, Fraktionsvorsitzender der SPD hat jetzt die Forderung aus dem SPD-Grundsatzprogramm von 2007 wieder aufgegriffen und den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland gefordert. Das trifft zwar auf breite Zustimmung in der SPD-Mitgliedschaft, aber auch auf eine dominante, innerparteiliche „Nuklearfront“, darunter Außenminister Heiko Maas, Finanzminister Olaf Scholz oder Siegmar Gabriel, der vor „gewaltigen Konsequenzen“ für das NATO-Bündnis warnte, wenn Deutschland aus der Nuklearen Teilhabe aussteige.

Außenminister Maas (SPD) wendet sich strikt gegen den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. „Wenn Atomwaffen verschwinden sollen, dann müssen sie überall verschwinden“, sagt er und beruft sich auf den Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Darin steht: Erst „erfolgreiche Abrüstungsgespräche schaffen die Voraussetzung für einen Abzug der in Deutschland und Europa stationierten taktischen Nuklearwaffen“. Damit wird die „Nukleare Teilnahme“ Deutschlands auf den St. Nimmerleinstag verschoben.

Die Friedensbewegung hat deshalb allen Grund, den Widerstand gegen die Beteiligung Deutschlands an der Atomkriegsstrategie der USA, gegen die in Büchel stationierten US-Atomwaffen, und gegen die damit verbundene Gefahr eines Atomkrieges in Europa verstärkt fortzusetzen.